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  3. Opioide: Zustände laut Pharmaindustrie nicht mit USA vergleichbar

Wirtschaft Schmerzmittel-Epidemie

Pharmaindustrie will nichts von Opioid-Krise wissen

Korrespondent Europäische Wirtschaft
Die Deutschen nehmen immer mehr Schmerzmittel ein

142 Menschen sterben in den USA täglich an einer Überdosis Opioide. Die Schmerzmittelsucht ist in Amerika ein ernstes Problem. Doch auch in Deutschland könnten immer mehr Patienten abhängig von Medikamenten werden.

Quelle: WELT/Christin Brauer

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Deutsche Pharma-Firmen wehren sich gegen den Vorwurf von Schleichwerbung für starke Schmerzmittel. Eine Suchtwelle sei hierzulande unwahrscheinlich. In den USA kämpft derweil ein Milliardärs-Clan mit Millionenklagen.

Worum geht es

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In den USA sind Hunderttausende abhängig von starken Schmerzmitteln, und Tausende werden über die Medikamentenabhängigkeit sogar heroinsüchtig. Rund 300.000 Menschen sollen in den vergangenen 15 Jahren an Überdosen gestorben sein.

Kritiker machen für die sogenannte Opioid-Epidemie nicht nur Ärzte verantwortlich, die zu locker und zu häufig starke Schmerzmittel verschreiben. Auch US-Pharmafirmen werden dafür kritisiert, dass sie zu aggressiv für den Einsatz der Arzneimittel werben und das Suchtpotenzial verharmlosen.

Quelle: Infografik Die Welt

Verhältnisse wie in den USA drohten auch hierzulande, warnt jetzt ein Experte: „Der Pro-Kopf-Verbrauch von Opioiden ist in Deutschland bereits erschreckend hoch und unterscheidet sich kaum noch von dem in den USA“, sagte Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Charité, im WELT-Gespräch. Er wirft den Herstellern aggressive Schleichwerbung vor.

Strengere Werberegeln

Die Pharmabranche hält derlei Warnungen vor einer Opioid-Epidemie in Deutschland allerdings für übertrieben: „Die Situation in den USA und in Deutschland ist nicht vergleichbar, denn Deutschland ist viel restriktiver, wenn es um Werbung für Arzneimittel geht“, sagt Jochen Stemmler, Sprecher des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA).

„Und die Einstellung zu Schmerzmitteln in der Medizin ist in Deutschland traditionell wesentlich zurückhaltender als in den Vereinigten Staaten.“ Der Verband vertritt nach eigener Aussage zwei Drittel des Arzneimittelmarktes hierzulande.

Tatsächlich sind die Werberegeln hierzulande weit strenger als in den USA. Hersteller dürfen hierzulande beispielsweise für verschreibungspflichtige Medikamente gar nicht bei Verbrauchern werben.

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In den USA hingegen sind Werbespots für starke Schmerzmittel oder sogar Krebstherapien im Fernsehen allgegenwärtig. Die USA sind allerdings neben Neuseeland auch das einzige reiche Industrieland, in dem Werbung für verschreibungspflichtige Mittel überhaupt erlaubt ist.

Schleichwerbung für Opioide

Allerdings wirft Charité-Professor Stein den Herstellern vor, auch hierzulande aggressiv für die Mittel zu werben. Im Fokus der legalen Bemühungen stünden zwar die Mediziner, von denen die Mittel verschrieben werden. In der medizinischen Fachliteratur beispielsweise gebe es immer wieder verdeckte Werbung für verschreibungspflichtige Opioide.

Quelle: Infografik Die Welt

Aber auch Verbraucher wären Werbebotschaften für verschreibungspflichtige Präparate ausgesetzt, warnt der Professor: „Publikumswerbung für verschreibungspflichtige Medikamente ist zwar verboten, aber es ist eine traurige Tatsache, dass man vor allem im Internet viel Schleichwerbung für verschreibungspflichtige Opioide findet“, sagt Stein.

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„Auch im Fernsehen taucht immer wieder verdeckte Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente auf. Daher ist es nicht überraschend, dass Patienten dann die Markennamen von Opioiden kennen.“

Die Hersteller wollen das allerdings nicht so stehen lassen und weisen darauf hin, dass der letzte Vorwurf verdeckter Werbung für ein verschreibungspflichtiges Medikament Jahre her sei. „Es gibt keine Belege für aktuelles Fehlverhalten“, sagt VfA-Sprecher Stemmler. „Deshalb beteiligen wir uns an keiner Debatte, die auf „Hörensagen“ beruht.“

Missbrauchspotenzial bei bestimmten Schmerzmitteln

Ähnlich die Reaktion bei den Mittelständlern aus der Pharmabranche: „Fälle von „Schleichwerbung“ oder generell unzulässiger Öffentlichkeitswerbung bei Opiaten sind uns nicht bekannt“, sagt Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH).

Der größte Teil der BAH-Mitgliedsunternehmen verkauft vor allem rezeptfreie Medikamente – dementsprechend gereizt reagiert Kroth auf eine weitere Forderung von alarmierten Medizinern, die verlangen, auch die Werbung für nicht verschreibungspflichtige Medikamente mit Missbrauchspotenzial zu verbieten.

Die Deutschen nehmen immer mehr Schmerzmittel ein

142 Menschen sterben in den USA täglich an einer Überdosis Opioide. Die Schmerzmittelsucht ist in Amerika ein ernstes Problem. Doch auch in Deutschland könnten immer mehr Patienten abhängig von Medikamenten werden.

Quelle: WELT/Christin Brauer

Gerd Glaeske, Pharma-Experte von der Universität Bremen, forderte gegenüber WELT beispielsweise ein umfassendes Verbot der Werbung für bestimmte Schmerzmittel, bei denen Koffein zugesetzt ist, und für andere Medikamente mit Missbrauchspotenzial.

Für Verbandsvertreter Kroth sind solche Forderungen ein Unding: „Die Werbung für rezeptfreie Arzneimittel ist ein wichtiges Instrument, um Patienten bei leichteren Erkrankungen sachgerecht über medikamentöse Therapiemöglichkeiten im Rahmen der Selbstmedikation zu informieren. Der Gesetzgeber hat im Heilmittelwerbegesetz für diese Werbung enge Leitplanken gesetzt“, sagte Kroth gegenüber WELT.

Außerdem stelle die Apothekenpflicht sicher, dass Schmerzmittel immer nur mit einer Beratung verkauft würden. Auch die Packungsbeilagen sorgten für eine sichere Anwendung. All diese Regelungen hätten sich bewährt, sagt Kroth. „ Im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen hatte Deutschland im Übrigen in den letzten Jahren einen niedrigen, sogar leicht rückläufigen Pro-Kopf-Verbrauch an rezeptfreien Schmerzmitteln.“

Millionenforderungen gegen Milliardenkonzern

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In den USA, wo Pharma-Konzerne jedes Jahr mehr als fünf Milliarden Dollar für Verbraucherwerbung ausgeben, laufen derweil inzwischen Klagen gegen die Hersteller wichtiger Opioide, insbesondere gegen Purdue Pharma, den Hersteller von Oxycontin. Die deutsche Tochter Mundipharma verkauft den Wirkstoff unter dem Markennamen Oxygesic.

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Mehrere Gerichtsverfahren wurden schon mit Vergleichen geregelt. Im Jahr 2007 zahlte Purdue insgesamt beispielsweise 600 Millionen Dollar. Inzwischen verklagen allerdings Hunderte Städte und Landkreise die Hersteller wegen der hohen Kosten für Behandlungen und Polizeieinsätze und verweisen in den Klagen auf irreführende und aggressive Werbung.

In den Gerichtsverfahren geht es um Hunderte Millionen Dollar. Für den Hersteller Purdue sind die Prozesse teuer, aber nicht bedrohlich; der Konzern machte allein im vergangenen Jahr drei Milliarden Dollar Umsatz – vor allem dank Oxycontin. Die Inhaberfamilie gehört denn seit Kurzem auch zu den 20 reichsten Familien Amerikas.

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