Seit 2018 ist Christian Stichler Leiter des ARD-Studios in Stockholm. Sein Berichtsgebiet erstreckt sich von Grönland bis Estland, vom Nordkap bis Litauen.

Wer in diesen Tagen durch Stockholm geht, der merkt, dass es auch in der schwedischen Hauptstadt etwas ruhiger geworden ist. Die großen Kinos haben geschlossen. Viele Menschen arbeiten im Homeoffice. Die Restaurants sind zur Mittagszeit deutlich weniger besucht. Die Universitäten haben auf Fernunterricht umgestellt, ebenso die Oberstufen der schwedischen Gymnasien. Und trotzdem wirkt Schweden derzeit wie eine Insel der Glückseligen in einem Europa von Kontakt- und Ausgangssperren, in dem das öffentliche Leben fast vollständig zur Ruhe gekommen ist.

Die Kindergärten und Schulen bis zur Klasse neun sind geöffnet, auf den Spielplätzen spielen Kinder, auf den Fußballfeldern wird gekickt. Vor dem Königlichen Theater sitzen die Leute mit einem Kaffeebecher in der Frühjahrssonne. Ab und an legt eine Fähre hinaus in die Schären ab. So, als sei nichts passiert. Ist Schweden vom Coronavirus verschont geblieben oder ignoriert die Regierung im größten skandinavischen Land die Wirklichkeit?

Der Mann, der das Land bisher so gelassen durch die Krise steuert, ist Anders Tegnell, der oberste staatliche Epidemiologe. Er gehört zur Behörde für Volksgesundheit. So lässt sich Folkhälsomyndigheten auf Deutsch übersetzten. Fast jeden Tag um 14 Uhr tritt der 63-Jährige vor die Presse und verkündet mit seinen Kollegen und Kolleginnen die neuesten Zahlen und die Empfehlungen seiner Behörde. Meist trägt er dabei einen etwas verwaschenen Pulli und Chino-Hosen. Wenn Tegnell sein Statement abgibt, schwankt er häufig hin und her. Wie eine nordische Kiefer im Wind. Tatsächlich bekommt Tegnell im Moment viel Widerstand.

Sein Kurs in dieser Krise ist in Schweden durchaus umstritten. Er wird einerseits bewundert, bekommt Blumen und Zuspruch, aber lauter sind die Kritiker – auch aus dem eigenen Fachgebiet. Schließlich hat das Coronavirus vor Schweden nicht Halt gemacht. Knapp 2.300 Infizierte zählen die Behörden bis Anfang dieser Woche. 36 Patienten sind bis diesen Dienstag an den Folgen von Covid-19 gestorben.

"Es ist blutiger Ernst", mahnt Fredrik Elgh, Professor für Klinische Mikrobiologie an der Universität von Umeå. In einer Mail hat er sich mit anderen Fachleuten des Landes an Tegnell gewandt, um sich Gehör zu verschaffen. In einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen sagte der Mediziner: "Ich bin zutiefst beunruhigt angesichts der Entwicklung. Ich würde am liebsten ganz Stockholm unter Quarantäne stellen."

Skandinaviens Einigkeit auf Probe gestellt

Schweden sei praktisch das einzige Land der Welt, das nicht alles unternehme, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Zusammen mit 13 anderen Wissenschaftlern hat Elgh in einem Beitrag für die schwedische Zeitung Dagens Nyheter am Mittwoch noch einmal nachgelegt und mehr Transparenz von der Behörde für Volksgesundheit gefordert. Tegnell und seine Kolleginnen und Kollegen sollten ihre Daten und Berechnungsmodelle offenlegen. Längst blicken auch die Nachbarstaaten Dänemark und Norwegen verwundert auf die Schweden. Von der Einigkeit der skandinavischen Länder in Krisenzeiten ist im Falle von Corona wenig zu spüren.

Warum bleiben in Schweden trotz steigender Infektionszahlen die Kindergärten und Grundschulen geöffnet? Warum gibt es keine Kontaktsperre wie in Deutschland? Tegnell antwortet auf diese wiederkehrenden Fragen fast immer gleich: der epidemiologische Nutzen von Schulschließungen im Falle des Coronavirus sei zweifelhaft. Weder in Italien noch in China hätten sich Schulen als Verbreitungs-Hotspots für das Virus erwiesen. 

Nach Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO in China gebe es bisher keinen einzigen belegbaren Fall, bei dem sich ein Erwachsener bei einem Kind angesteckt habe. Wieso sollte man dann Zehntausende gesunde Kinder zu Hause behalten? Zumal sonst viele Eltern, die in wichtigen Berufen für die Krisenbekämpfung arbeiten, nicht mehr zur Arbeit gehen könnten? Tegnells Credo: "Alle Maßnahmen, die wir treffen, müssen auch über einen längeren Zeitraum durchführbar sein." Ansonsten verliere man in der Bevölkerung die Akzeptanz für die gesamte Corona-Strategie.